ESSAY-BRIEF

Essay-Brief Juni 2021

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Wer bin ich? Teil II

© Bernd Helge Fritsch

 

Alles ist Eins

Der Mensch besteht in etwa aus 30 Billionen verschiedenartigster Körperzellen. Sie sind alle miteinander verbunden. Sie werden alle von "einer" geistigen Kraft durchdrungen und gelenkt. Auf diese Weise bilden sie einen Körper, eine höchst weisheitsvolle "Ein"-heit.

Allein für sich kann unser Körper nicht existieren. Er benötigt für seine Zeugung Vater und Mutter. Er bedarf in der Kindheit der Pflege durch die Eltern oder durch andere Personen. Er benötigt zum Atmen die ihn umgebende Luft. Er braucht Nahrung. Er lebt in Symbiose mit vielen Milliarden Bakterien, die in seinem Darm Nahrung in Energie umwandeln.

Unsere Verbindung mit der uns umgebenden Luft, mit den Strahlen der Sonne, mit dem Regen und nicht zuletzt unser liebevoller Bezug zu andern Menschen - all das ist für uns Menschen lebensnotwenig. Mit all diesen Personen und Elementen bilden wir eine physische und geistige "Ein"-heit.

Unser Planet Erde mit seinen Bewohnern, zeigt sich ebenfalls als eine "Ein"-heit in der jedes einzelne Ding und jedes Wesen mit allen anderen untrennbar verbunden ist. In gleicher Weise verhält es sich mit dem gesamten Kosmos. Auch die Milliarden von Galaxien in unserem Weltall, inklusive unserer Galaxie, genannt Milchstraße, bilden eine Gemeinschaft.

Kein Stern darf fehlen im großen Orchester der Erscheinungen. Wie jede Zelle in unserem Körper so hat auch alles Erscheinende im weisheitsvollen Universum seinen bestimmten Platz und erfüllt eine besondere Aufgabe.

Anders gesagt: Nichts und niemand hat eine unabhängige Existenz. Jedes einzelne Ding und jedes Lebewesen unterliegt dem Einfluss des ganzen übrigen Universums. Umgekehrt haben jeder Stern und jeder Schmetterling und auch du und ich Einfluss auf jedes Geschehen in der Welt. So verrückt es klingen mag, ohne dich und mich kann - aus spiritueller Sicht betrachtet - die Welt nicht sein.

Somit gehören alle Dinge und Wesen zusammen und bedingen sich gegenseitig. Krankt etwas in einem Bereich unserer Mutter Erde, so sieht sich das Universum veranlasst durch entsprechende Maßnahmen gegenzusteuern. Wenn beispielsweise Menschen in die Harmonie der Natur eingreifen oder sich falsch ernähren, zu viel konsumieren und die Umwelt und ihren Körper krank machen, dann reagiert das Universum mit Pandemien oder anderen Umwelt-Ereignissen. Diese wirken oft zerstörend und haben dennoch eine ausgleichende und letztlich reinigende und heilende Wirkung.

Solche Ereignisse sollten uns nicht beunruhigen, sondern wir Menschen sind aufgerufen sie in einem größeren Zusammenhang zu verstehen und auf unser eigenes Denken und Wirken zu achten.

Es gibt nur das Eine! Es gibt nicht dich und Gott!

Die "höchste", alle sichtbaren und unsichtbaren, alle bisherigen und künftigen Welten umfassende Einheit wird von den Menschen mit Namen wie zum Beispiel Gott, Brahman, Buddha, Tao, Selbst oder universelles Bewusstsein bezeichnet.

Alle "Erwachten", alle bedeutenden Weisheitslehrer und Mystiker lehren uns, dass dieses "Höchste", dieses eigentlich namenlose, formlose und undefinierbare "Nichts und Alles" der Ursprung aller Erscheinungen ist. Und es gibt nichts, was nicht von dieser "Ein"-heit durchdrungen ist. Somit ist alles Gott.

So wie es am physischen Plan nur einen Raum (den Weltenraum) und sonst keinen weiteren Raum gibt, so existiert im allumfassenden spirituellen Bereich kein Sein außerhalb des "Einen-Höchsten".

Diese Überzeugung bildet die Grundlage der altindischen "Advaita- Philosophie" (das Sanskrit-Wort "advaita" bedeutet "nicht-Zwei"). Sie besagt, dass nur Brahman, die eine höchste Wirklichkeit existiert. Daher sind auch wir Menschen in unserer Essenz nichts anderes als diese Gottheit.

 

Adi Shankara (788-820), gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Advaita-Lehre. In seiner Schrift "Viveka Chudamani" (siehe "Das Kleinod der Unterscheidung" von B. H. Fritsch), beschreibt er seine Erkenntnis mit den Worten:

"Die Vielfalt der Formen, die wir erfahren, ist nichts anderes als Brahman, das Eine ohne ein Zweites…"

"Das ganze Universum ist aus Brahman hervorgegangen und hat keine von ihm unabhängige Existenz."

 

Nach Shankara und allen anderen Meistern welche uns Advaita lehren, hat es nie eine "Zweiheit" von Gott und dem Menschen gegeben. Durch Klarheit des Geistes und Meditation kann jeder Mensch die Erfahrung der eigenen untrennbaren Identität mit Brahman verwirklichen. Dadurch bewirkt er die Befreiung vom Karma und die Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten.

Der sündige Mensch und der gute Gott

Ob uns unser Gott- und Alles-Sein bewusst ist, bedingt die Qualität unseres Erdendaseins und die Freude, die mit diesem Dasein verbunden ist. Deshalb sollten wir uns die Frage stellen ob wir unsere Einheit mit allem Sein tatsächlich erfahren und zum Ausdruck bringen. Oder ist es so, dass wir eher dazu neigen uns selbst und unsere Mitmenschen zu be- und ver-urteilen. Erachten wir uns und andere als schwache, fehlerhafte, vom Rest der Welt getrenntes Wesen?

Bedingt durch seine Inkarnation, in Verbindung mit seinem Denken entwickelt jeder Mensch - von wenigen Ausnahmen abgesehen - ein von der "Ein"-heit abgesondertes "Ego-Bewusstsein". Dieses "Ego-Ich" identifiziert sich mit seinem vergänglichem Körper, seinen Gedanken, mit seinen Erinnerungen an die Vergangenheit, mit seiner Stellung in der Gesellschaft, seinen Besitztümern und so fort. Doch das sind Täuschungen, die Gefühle von Isolation, von Vergänglichkeit, von Unruhe, Ängsten und Sorgen hervorrufen, womit zwangsläufig Unglücklich-Sein verbunden ist.

 

Kinder befinden sich in den ersten Lebensjahren vorwiegend in einer glückseligen Verbindung mit der göttlichen Einheit. Doch bald, Schritt für Schritt, geht dieses Gefühl der Geborgenheit und des unbegrenzte Vertrauen in das Dasein verloren. An deren Stelle macht sich das Ego-Bewusstsein mit seinen Wünschen und Ängsten immer stärker und lauter bemerkbar.

Seit vielen Jahrhunderten wird dieses Ego-Bewusstsein des heranwachsenden Menschen durch die Unwissenheit seiner Umgebung, seiner Eltern, Lehrer und der Gesellschaft gezüchtet und gefördert. Nach wie vor beruht unser Erziehungs-System auf Lob und Tadel, auf Benotung und auf Begriffen von Sünde und Strafe. Es bewirkt im heranwachsenden Menschen frühzeitig Konkurrenz-Denken, ungesundes Leistungsstreben, Sorgen und Stress. Es führt zu Minderwertigkeits-Gefühlen und zur Empfindung allein einer oft ungerechten und feindlichen Umgebung ausgesetzt zu sein.

Dem Menschen wird eingetrichtert klein, unbedeutend, schwach, fehlerhaft und vergänglich zu sein. Das hindert insbesondere "gottgläubige" Menschen daran die eigene Göttlichkeit und natürlich auch die ihrer Mitbürger zu erkennen. Für sie ist Gott der Gute und die Menschen sind vorwiegend schlecht und schuldbeladen.

Entsprechend den christlichen Traditionen existiert der Mensch gesondert von Gott. Durch die Erbsünde, sind alle Menschen, ausnahmslos, als Nachfahren von Adam und Eva gebrandmarkt.

Die Lehre der Sündigkeit des Menschen geht vorzüglich auf den Apostel Paulus zurück und wurde später vom Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430) zum Dogma erhoben. Paulus schreibt im Römer Brief (Röm 5, 12):

"Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen. In ihm haben alle Menschen gesündigt…

 

Die vorstehenden Feststellungen sind nicht als Kritik an einzelnen Menschen, an einer Kirche oder an Bereichen der Gesellschaft gedacht. Wir selbst und alle Mitmenschen sind wie sie sind und wir dürfen uns und sie liebevoll annehmen, so wie wir und sie sind.

Unsere dualen Unterscheidungen wie "gut und böse", wie "heiß und kalt", "gesund und krank", - aber auch Begriffe wie "vollkommen und fehlerhaft", "Einheit und Vielfalt" bedingen einander. Denn in der Welt der Formen kann das Eine nicht ohne das andere erkannt werden und so sind sie untrennbar miteinander verbunden.

Es geht daher bei den vorstehenden Ausführungen nicht um Kritik, sondern um Bewusst-Werdung. Deshalb untersuchen wir, ohne uns selbst oder andere zu verurteilen, wie unser Ego-Ich funktioniert und wie wir uns von seinen Zwängen befreien können. Damit entfalten wir die Grundlage für die Erfahrung des Seins jenseits der Formen und Gedanken.

Der gottgleiche Mensch

Im Gegensatz zur allgemeinen Denkweise wonach der Mensch ein von Gott getrenntes Dasein führt und schwach, fehlerhaft und schuldbeladen ist, bestätigt die Schöpfungsgeschichte des Alten Testamentes, dass wir Menschen in unserer Essenz das "Eine-Höchste" sind. Denn wir erfahren dort, dass Gott den Menschen zu seinem "Ebenbilde" schuf.

Auch Jesus (offenbar auch ein "Erwachter") erklärte seine Einheit mit dem göttlichen Vater. Als ihn deshalb seine jüdischen Mitbürger steinigen wollten, verwies er auf den Psalm 81,6 in dem geschrieben steht, dass alle Menschen

"Götter und Kinder des Höchsten" sind (Joh. 10, 30 - 35)

 

Ebenso betonte Meister Eckehart immer wieder unsere Gleichstellung mit dem "eingeborenen Sohn" (Jesus) und die Göttlichkeit eines jeden Menschen:

"Was immer Gott wirkt, das ist Eines;

darum zeugt er mich als seinen Sohn ohne allen Unterschied"

"Alles, was der göttlichen Natur eigen ist, das alles ist auch dem

gerechten und göttlichen Menschen eigen"

(Siehe die Verurteilung dieser Lehrsätze durch die päpstliche Bulle

"in agro domini")

 

Doch solche Aussagen widersprachen damals - wie heute - den Dogmen der katholischen Kirche. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Eckehart von der Inquisition verfolgt wurde.

Buddha-Natur

Auch in der buddhistischen Tradition und Religion finden wir die Überzeugung, dass alle Wesen eins mit dem Höchsten (mit Buddha) sind.

In etlichen Sutras (überlieferte Lehrreden des Siddhartha Gautama Buddha) des Mahayana-Buddhismus (z.B. im Lotus- und Nirvana-Sutra) wird das "wahre Selbst" jedes Menschen als "Buddha-Natur (Buddha-dhatu)" bezeichnet.

Das Wort "Buddha" bedeutet wörtlich übersetzt "Gewahr-" oder "Achtsam-Sein." Um Buddha zu verwirklichen, muss sich der Mensch von seinen Ego-Gedanken, die vorwiegend aus Wünschen, Wollen, Unzufrieden-Sein und sich Sorgen-Machen bestehen, lösen. Auf diese Weise vermag er sich seiner göttlichen Buddha-Natur bewusst zu werden. Geschieht dies, so finden alle seine leidvollen Identifikationen mit seinem Körper und seiner Ego-Person ihr Ende.

Wahre Liebe

Wenn alles Eins, alles Gott ist, so folgt daraus, dass jeder Mensch, abgesehen von seinem physischen und mentalen Erscheinungs-Bild, eins mit allen anderen Erdenbürgern ist.

Wenn du daher einen Mitbürger kritisierst, so kritisierst du dich selbst und fügst deiner Seele Leid zu. Hingegen wenn du deinen Nächsten, wie immer er sich verhält, liebst wie dich selbst, so offenbarst du wahre Liebe und erfährst die Seligkeit des allumfassenden Seins.

Wahre Liebe besteht demnach nicht darin, nur Menschen und Dinge gern zu haben, die uns gefallen, sondern darin sich als eins mit allem Sein zu erkennen.

 

Schon Jesus stellte in der Bergpredigt die Frage:

Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben,

welchen Lohn habt ihr dann verdient? (Luk 6 32)

 

Und so lehrt auch der indische Meister Nisargadatta Maharaj (354-430):  

Für mich existiert nichts für sich allein.

Alles ist das Selbst, ich bin alles.

Mich in jedem wiederzuerkennen und jedem in mir ist sicherlich Liebe

                                                                                   ("Ich bin" II S. 97)

 

Mit dieser Einstellung gibt es kein Besser- oder Schlechter-Sein, gibt es kein Kritisieren und Verurteilen mehr. Wenn alles Gott ist, endet alles "Gut" und "Böse".